Das Steingraeber-Haus in der Friedrichstraße, einer der wenigen erhaltenen Rokokobauten in der Festspielstadt, ist längst eine Institution in Bayreuth. Auf dem dreieinhalbtausend Quadratmeter großen Areal des Unternehmens finden außerdem zwei Konzertsäle, ein kleines Open-Air- Sommertheater, eine Kunstgalerie und Künstlerapartments Platz. Im Jahr veranstaltet Familie Steingraeber hier um die 60 Konzerte – sie fördert regelmäßig junge Talente und arbeitet in der Produktion der Klaviere immer eng mit Pianistinnen und Pianisten zusammen. Und das hat prestigeträchtige Tradition: Ihre Kundenkartei zieren keine geringeren Namen als Franz Liszt, Richard Wagner, Richard Strauss und Daniel Barenboim.
Das Herz des Unternehmens befindet sich jedoch nebenan: In der nach dem Harz von Tonhölzern duftenden Werkstatt lagern edel gemasertes französisches Walnussholz, Rosenholz und ostindischer Palisander. Das 35-köpfige Team aus Klavierbauern, Schreinermeistern, Schlossern und Akustikbauern fertigt hier Resonanzböden an, intoniert Hammersätze, bearbeitet Gussplatten und spinnt sogar eigene Saiten. Die Mitarbeitenden wissen, dass der Teufel im Detail steckt: zum Beispiel, dass der Filz der 88 Klavierhämmer mindestens 17.000 Stiche mit der Nadel benötigt, um feinste Klangnuancen zu garantieren, vom „nebligen Pianissimo“ bis zur durchschlagenden Brillanz. Und das ist nur einer der vielen Arbeitsschritte, die es braucht, bis das fertige Piano nach acht bis 14 Monaten vor ihnen steht. Ein Klavier setzt sich zusammen aus über 12.000 Einzelteilen, die alle hier in der Werkstatt gefertigt werden – von Hand.
„Computergesteuerte Maschinen dürfen guten Klavierbauern nur assistieren“, erklärt Udo Schmidt-Steingraeber, Geschäftsführer des Familienunternehmens. „Das Material, mit dem wir arbeiten, ist sehr empfindlich, zum Beispiel das Weichholz, oder aber sehr störrisch, wie die Gussplatten aus Eisen. Ihre Dimensionen sind immer andere – diese Unterschiede in der Bearbeitung kann eine computergesteuerte Maschine nicht einschätzen.“ Und dementsprechend auch nicht die qualitativ exzellente Arbeit der Klavierbauer ersetzen. Um die Tradition fortzuführen, bildet das Unternehmen auch aus. Drei Auszubildende können zeitgleich in dreieinhalb Jahren die hohe Kunst des Klavierbaus lernen. Anhand der Ausbildungsinhalte sehe man, wie sich das Handwerk weiterentwickelt: „Die jüngere Generation verbindet heute großes feinmechanisches und handwerkliches Vermögen mit einem tiefen Wissen über die inneren Zusammenhänge physikalischer und mathematischer Art“, erklärt Schmidt-Steingraeber.
Pro Jahr fertigt die Manufaktur bis zu 110 Pianos und Flügel – vergleichsweise eine geringe Stückzahl, vor allem, wenn man sie mit der in den großen Fabriken in China vergleicht, in denen heute aus Preisgründen die meisten Instrumente produziert werden. „Glücklicherweise gibt es dieses Angebot“, sagt Schmidt-Steingraeber. „Wir wollen ja nicht, dass Klaviermusik nur einer elitären Gruppe vorbehalten ist.“ Gegenüber den großen Anbietern hebt sich Steingraeber allerdings nicht nur durch eine herausragende Qualität ab, sondern auch durch seine Flexibilität. Klaviere und Flügel werden nach den persönlichen Ideen und Wünschen der Pianistinnen und Pianisten maßgebaut. Während dieses Prozesses können die Kunden im Steingraeber-Haus wohnen und das für sie perfekte Instrument auswählen. Nicht selten reisen sie von weit her an – wie kürzlich eine Pariser Designerin und ein Architekt aus Beirut, die im Verlauf von zwei Jahren viermal nach Bayreuth kamen, um dort zusammen mit dem Steingraeber-Team ein außergewöhnliches Klavier zu entwerfen.
In der Tradition des Klavierbaus kann das Unternehmen auf eine lange Geschichte zurückblicken. Eduard Steingraeber geht in den 1830er-Jahren in der Klavierwerkstatt seines Onkels Gottlieb Steingraeber in die Lehre. 1846 führen ihn seine Wanderjahre auch nach Wien und er arbeitet dort schließlich als Konzertstimmer für keinen Geringeren als Franz Liszt. Der Komponist spielt bei seinen Auftritten so leidenschaftlich, dass ständig etwas kaputtgeht. Eduard Steingraeber muss daher in Anwesenheit des Meisters schwitzend und nervös auf die Bühne treten, um vor den Augen des Publikums gebrochene Hammerstiele und gerissene Saiten zu reparieren. Die harte Schule zahlt sich aus: Eduard Steingraeber analysiert die besten Klaviere, die es zu seiner Zeit auf dem Markt gibt, und beginnt, sie weiterzuentwickeln. Im Jahr 1852 gründet er eine Pianofortefabrik in Bayreuth und legt damit den Grundstein für eine bis heute währende Tradition handwerklicher Klavierbaukunst. In den folgenden Jahrzehnten gewinnt das Unternehmen rasch an Bekanntheit und Anerkennung und beliefert außerdem seit ihrer Gründung 1876 die Bayreuther Festspiele mit Klavieren.
Udo Schmidt-Steingraeber ist im Steingraeber-Haus aufgewachsen, hat im Rokokosaal Klavier spielen gelernt. Er steigt 1980 ins Unternehmen seiner Eltern ein – da ist er 24 Jahre alt und eigentlich in Vorbereitung auf das juristische Staatsexamen an der LMU in München. Als aber sein Vater nicht aus dem Urlaub zurückkehrt, weil er schwer erkrankt und dann verstirbt, muss Schmidt-Steingraeber das Examen aufschieben und direkt in die Firma einspringen. Er holt das Staatsexamen ein halbes Jahr später nach, arbeitet aber nie als praktizierender Jurist, sondern verschreibt sich mit Leib und Seele dem Erhalt des Familienunternehmens. Auf dem Areal gibt es eine alte, leer stehende Fabrik. Schmidt-Steingraeber kommt auf die Idee, sie zu sanieren und an eine Kneipe und Tanzschule zu vermieten, damit weitere Sanierungsmaßnahmen zukünftig von den Mieteinkünften und nicht aus den Verkäufen der Klaviere bezahlt werden können. „Die Sanierung der alten Fabrik hat eine Million Mark gekostet – viel Geld für einen 24-Jährigen und durchaus ein Wagnis“, erinnert sich Schmidt-Steingraeber. Mit einer Förderung der LfA kann er seine Pläne wie gewünscht umsetzen und in eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsführer starten. Dieses Jahr zieht er sich in eine beratende Funktion zurück – und übergibt die Geschäftsführung an seine Kinder, die Politikwissenschaftlerin Fanny, 25, und den Betriebswirt Alban, 29. In siebter Generation wollen sie an Traditionen festhalten – aber nicht, ohne sich auch auf Innovationen zu konzentrieren.
Auch Udo Schmidt-Steingraebers Frau Cordelia hat mittlerweile ihren Beruf als Rechtsanwältin aufgegeben, um im Familienunternehmen zu arbeiten. Mit ihrer Tochter Fanny wird das Unternehmen allerdings zum ersten Mal in über 200 Jahren auch von einer Frau geführt. Die Konsequenz: Der Zusatz „& Söhne“ fällt im Logo und im Markennamen weg. Ein Kredit der LfA unterstützt ein weiteres Mal dabei, das Unternehmen in die Zukunft zu führen: Sie finanziert einen Biegebock, der extra von der Universität Coburg für Steingraeber entwickelt wurde und für die nächsten 50 Jahre die Zargen, also die Seitenwände der Flügel, formen wird. „Weil wir progressive Projekte anstoßen, kommen auch progressive Künstler und Wissenschaftler auf uns zu“, sagt Fanny Steingraeber, die sich in den nächsten Jahren auf die Themen Innovation, Nachhaltigkeit und Diversität konzentrieren will.
„Haben Sie sich zum Beispiel schon mal gefragt, wer die Größe der Klaviatur festgelegt hat? Sie ist seit Jahrhunderten standardisiert – für männliche, europäische Hände.“ Dass Frauen und Menschen aus dem asiatischen Raum meist kleinere Hände haben, wurde lange ausgeblendet. Jetzt nicht mehr: Steingraeber hat bereits Klaviere auf den Markt gebracht, die eine schmalere Klaviatur haben – 9,43 Zentimeter ist sie insgesamt kleiner als der Standard. „Wenn man kleine Hände hat, kann man auf diesen Klaviaturen ganz andere Stücke greifen, also spielen oder auch komponieren“, erklärt Fanny Steingraeber. „Das ist dann auch spannend für die Weiterentwicklung der zeitgenössischen Musik.“ In den letzten 30 Jahren hat die Manufaktur von allen Klavierherstellern auf dem Markt die meisten Innovationen entwickelt – noch so eine Tradition, die Familie Steingraeber weiterführen will.