Kunstkalender 2020 – Kalenderblatt Juni
Was betrachtet die weibliche Figur im gelben Anorak? Sie hat ihren Kopf weit in den Nacken gebeugt und blickt fasziniert zu einem Bündel exotischer Früchte, das am unteren Ende eines einsamen hohen Baumes hängt. Das Licht dämmert; noch herrscht weitgehend Dunkelheit, doch die Felsenberge im Hintergrund leuchten bereits rötlich. Hell am Himmel steht der Mond. Genau genommen ist es jedoch nicht der Mond, der uns vertraut ist. Denn Ausgangspunkt für Tobias Franks Illustration aus der Serie „The First Years“ ist die Fortsetzung einer von ihm selbst verfassten Geschichte, die auf einem Planeten außerhalb unseres Sonnensystems spielt. Je sieben männliche und sieben weibliche Astronauten besiedeln ihn, um das Fortbestehen unserer Spezies nach dem Untergang der Erde zu sichern. Tobias Frank kennt sich sehr gut aus im Stoff. Sein Werk umfasst nicht nur die Erzählung der Besiedlung und deren Illustration, die er am Computer generiert, sondern er entwirft eine komplette Welt mit Landschaften, Personen und Objekten, ja selbst naturwissenschaftlichen Überlegungen. So kreist der Exoplanet um zwei Sonnen, was zwei Sonnenaufgänge und -untergänge zur Folge hat. Wie viele Monde ihn begleiten, muss noch er- forscht werden; die kleineren Lichter am Himmel könnten weitere Trabanten sein.
Science-Fiction bildet die Basis der Arbeit von Tobias Frank. Wie gestaltet sich das (Über-)Leben auf Webb-372995 (AB), so die wissenschaftliche Bezeichnung des „Eru“ genannten Gestirns. Tobias Frank interessiert sich für jedes Detail, stellt sich Tagesabläufe und Ereignisse vor. Die junge Siedlerin steht also vor einem Baum, der mit seinem lichten, fleischigen Laubwerk an eine Agave erinnert. Ob die Früchte essbar sind? Ob sie eine neue Nahrungsgrundlage in einem noch weitgehend unbekannten Ökosystem bilden? „new favourite fruit found“, vermerkt die Siedlerin im Logbuch über ihre Entdeckung. Der Eintrag (– Log 235.5) klärt die Frage zwar nicht, betont aber die Faszination der Entdeckung einer neuen Welt.
Text: Jochen Meister