Kunstkalender 2020 – Kalenderblatt August
Niemand wird heute mehr glauben, dass Fotografie schlicht ein Abbild von etwas Geschehenem ist. Fotografie ist immer von der Absicht und der Haltung jener Person abhängig, die sich hinter der Kamera befindet und das aufgenommene Material dann bearbeitet. Wer sich künstlerisch mit ihr beschäftigt, kann in der Fotografie noch eine weitere wichtige Eigenschaft entdecken und nutzen. Tatsächlich steckt in ihr das Potential, wie bei einer Sprache einen Schatz an (visuellen) Subjekten und Objekten zu schaffen, eine Grammatik zu generieren. Roxana Rios nutzt die Fotografie, um das Umgebende aufzuarbeiten und überträgt die Idee von verbalen Sprachspielen auf Bildhaftes. Der Vergleich wird deutlich, wenn wir uns bewusst machen, dass das von uns hier abgebildete Portrait kein unabhängiges Motiv, sondern zugleich Teil einer verflochtenen Beziehung von Bildern untereinander ist. Roxana Rios spricht von einem Bildkollektiv, aus dem sie schöpft und welches sie zugleich befüllt hat. Dies geschah mit der Sichtung von älteren Aufnahmen, die zwischen 2008 und 2013 entstanden sind. In einem improvisierten Studio hatte sie ihren damaligen Freundeskreis fotografiert. Die jugendlichen Akteure lösten sich im Verlauf der Shootings aus ihren Rollen, die sie vor der Kamera zunächst eingenommen hatten. Die Arbeit beschäftigt sich mit Fragen an das Portrait, dem „noch finden“ der eigenen Identität und ihrer Darstellung, und im wesentlichen mit Momenten, in denen die Akteure „losließen“ von jenen jugendlichen Selbstdarstellungen.
Wichtig ist für den künstlerischen Prozess der Umgang mit dem archivierten Material. Roxana Rios wählte jene Aufnahmen aus, die in einem neuen Zusammenhang ihre Gültigkeit bewahren konnten, die sozusagen neue „Sätze“ bildeten. Sie betrieb eine Aufarbeitung des Archivs, nicht im technischen, sondern geistigen Sinne. Obwohl der Ausgangspunkt, Portraits von Jugendlichen, erhalten blieb, „sprachen“ die Bilder nun anders. Der junge Mann mit nacktem Oberkörper, dessen Blick gesenkt ist und der sich in einem Moment der inneren Konzentration zu befinden scheint, hat nichts von der ursprünglichen Authentizität verloren. Es ist die Zeitlosigkeit eines Ausdrucks, der zwischen Körper und Seele zu schweben scheint. Durch den Kontext im Bildkollektiv steht das eindrückliche Portrait jedoch nicht isoliert, es ist jener Umgebung entwachsen, obwohl es als Einzelbild seine Aussagekraft bewahrt.
Text: Jochen Meister