Wie entsteht Wandel? Manchmal mit vielen losen Ideen. Ohne Einschränkungen und Denkverbote. Aber beginnen wir mit dem Ort. Und mit einer Aussicht, die so spektakulär ist, dass noch der größte Stress von einem abfällt. Es ist einer von diesen Orten, die einen mit der Welt versöhnen: Die großen Panoramafenster bieten einen beeindruckenden Blick auf die majestätische Bergkulisse von Berchtesgaden und ein Naturschwimmteich verlockt zum Entspannen. Natürlich kann man hier ein paar herrliche Tage urlauben. Der Kulturhof Stanggass ist allerdings viel mehr als ein Hotel: ein Ort der Begegnung. In jedem Gebäude lädt er Touristen und Einheimische dazu ein, Teil einer Gemeinschaft zu werden. Ob im Gourmetstüberl, im Biergarten, im hauseigenen Yogastudio oder im CoWorkingSpace: Im Kulturhof soll gefeiert, Kultur und Genuss zelebriert, Natur gelebt werden.
Im November 2021 öffneten sich erstmals die Pforten des Kulturhofs – seit dem wird das Motto „Hier ist Beieinander“ auch in der Praxis gelebt. Initiator dieses Konzepts ist der Unternehmer Dr. Bartl Wimmer. Der 61Jährige ist in Berchtesgaden aufgewachsen und tief in der Region verwurzelt. Als Vorsitzender des Zweckverbands Bergerlebnis Berchtesgaden beschäftigt er sich schon lange mit der Zukunft seiner Heimat, außerdem engagiert er sich seit über 35 Jahren in der Kommunalpolitik. „Es ist eine riesige Aufgabe, Tourismus so zu leben und zu gestalten, dass er den hier lebenden Menschen – vor allem den jungen – wirkliche Vorteile bringt“, erklärt er. Gerade im Alpenraum wandern immer mehr Leute in die Städte ab. Auch aus Wimmers Abiturklasse sind nur drei Mitschülerinnen und Mitschüler in der Region geblieben. Die Tourismusbranche muss laut Wimmer den Generationswechsel schaffen: „Sie muss junge Leute dafür begeistern, in attraktive Beherbergungen mit regionalen Produkten zu investieren, von deren Betrieb man vernünftig leben kann.“ Diese Denkweise unterscheide sich fundamental davon, wie Tourismus bisher oft umgesetzt wurde: mit großen Fremdinvestitionen und Resorts, in denen keine oder nur sehr wenige Einheimische arbeiten. Die Folge: Die Wertschöpfung wandert aus der Region ab. Ganz abgesehen davon, dass kein Kontakt mehr zwischen Gästen und Einheimischen stattfindet. „Diese Art des Tourismus muss anders gedacht und gestaltet werden – und dazu wollen wir mit dem Kulturhof wirklich einen Beitrag leisten“, sagt Wimmer.
Nun muss man wissen, dass Wimmer eigentlich kein Hotelier, sondern Laborarzt ist. Als junger Mann sammelt er im Zivildienst Erfahrungen im Rettungsdienst und entscheidet sich anschließend für ein Medizinstudium in München und Regensburg. Später wechselt er in die Labormedizin.
Und das sehr erfolgreich: 1998 gründet er die Synlab Gruppe – einen börsennotierten Anbieter von Laborleistungen mit heute über 20.000 Mitarbeitenden –, die er als CEO leitete. „Jede neue berufliche Möglichkeit bin ich mit Herzblut und Einsatz angegangen. Nichts davon war so geplant“, so Wimmer.
Das gilt auch für den Kauf des Kulturhof Grundstücks. Mehr als hundert Jahre steht dort das Hotel Geiger, eine der renommiertesten Adressen in Berchtesgaden. 1997 müssen die Inhaber Insolvenz anmelden. Fast 20 Jahre liegt das Gelände brach. Immer wieder gibt es Nutzungs- und Versteigerungsvorschläge – die Wimmer aber nicht zusagen. „Deswegen habe ich es dann selbst ersteigert“, erzählt er schmunzelnd. Er setzt sich ehrgeizige Ziele: Das moderne Konzept soll mit einer traditionellen Bauweise vereint und alle Prozesse so nachhaltig wie möglich gestaltet werden. Die Arbeiten auf der Großbaustelle übernehmen überwiegend lokale Unternehmen. Das Holz für die Gebäude kommt aus den heimischen Wäldern. Es ist Mondholz – wurde also unter Berücksichtigung des forstwirtschaftlichen Mondkalenders gefällt. Der Kulturhof gewinnt seine Energie durch eine Hackschnitzelanlage und Solarzellen, die natürliche Dämmung des Holzes sorgt außerdem für einen geringen Energieverlust. Der Betrieb der Hotelanlage ist so energiesparend möglich und außerdem vergleichsweise unabhängig von steigenden Energiepreisen.
Alle Gebäude mitsamt ihrer modernen Energieversorgung konnten mit einer Förderung der LfA finanziert werden. Auch im laufenden Betrieb wird regional großgeschrieben: Die Küche des Gasthauses kocht mit Zutaten aus der Umgebung, frische Kräuter kommen aus dem eigenen Gewächshaus, das Obst wird von den umliegenden Streuobstwiesen geerntet.
Was Wimmer in der Branche zum Positiven verändern möchte, fasst er unter dem Begriff „Enkeltauglichkeit“ zusammen: „Für die junge Generation muss eine wirtschaftliche Basis geschaffen werden, die ihr ein Einkommen ermöglicht. Den Tourismus als attraktiven Arbeitgeber zu gestalten, ist allerdings genauso wichtig wie ein kulturelles Angebot, das jüngere Leute im ländlichen Raum hält.“
In der Praxis heißt das, dass im Kulturhof 50 bis 70 Veranstaltungen pro Jahr geplant sind: Konzerte, Theaterabende, Ausstellungen. Das große Werkstattatelier bietet Platz für Kreativität und das „Regional-Labor“ lädt regelmäßig zu Diskussionen darüber ein, was ein „gutes Leben“ in der Region ausmacht. Dazu passt auch, dass die eigene Familie mitmacht: Wimmers Tochter Miriam ist verantwortlich für die Objektgestaltung, ihr Mann Nuri Irshaid ist im Projektmanagement tätig und Wimmers Sohn Florian hat die Geschäftsführung übernommen. Sie waren von Anfang an dabei.
Über zwei Jahre verdichtet die Familie lose Ideen zu einem konkreten Konzept. „Wir haben uns am Anfang überhaupt keine Denkverbote gegeben. Es war wie ein Wolkenbild am Himmel, das sich konstant verändert hat.“ Am Ende kreist immer wieder alles um den Begriff „Beieinander“. Er wird zum alles prägenden Leitmotiv.
Das Wir-Gefühl schlägt sich vor allem bei den 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nieder. Der Kulturhof bemüht sich um flache Hierarchien und um eine Zusammenarbeit der Säulen Hotel, Kulinarik, Veranstaltung, Bewegung und Kreativität. Und um einen Austausch zwischen Menschen aus der Gegend und Besuchern.
„Die wichtigsten Ressourcen für die Zukunft sind keine finanziellen Mittel, sondern vielmehr zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, findet Bartl Wimmer. Das gelte für den Tourismus genauso wie für die Medizin.