Was ist Ihnen lieber, Frau Lauterbach: ein Computer, der Entscheidungen trifft, oder ein Mensch?
Das hängt von dem Menschen ab und von dem Computer, der vor einem steht. Ich glaube ja, dass schon der Begriff Künstliche Intelligenz in die Irre führt. Bis heute ist da nicht wirklich Intelligenz drin, das ist alles Programmierung – von Menschen gemacht. Ihre Fähigkeiten, die Erkenntnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Anwendungen nutzbar zu machen, sind der Schlüssel. Und natürlich das technische Können.
Macht Ihnen Künstliche Intelligenz auch manchmal Angst?
Höchstens, wenn den programmierenden Teams die „Diversity“ fehlt. Bei Facebook hat eine Gruppe 2017 einem Rechner beigebracht, Berufe auf Basis von Gesichtern zu prognostizieren. Bei Barack Obama war die Kategorie „Basketballspieler“, weil sich der Rechner nicht vorstellen konnte, dass eine dunkelhäutige, groß gewachsene Person auch US-Präsident sein könnte. Bei einer Erkennungssoftware von Google wurden Dunkelhäutige als „Gorillas“ bezeichnet. Solche Fälle sind alles andere als lustig. Auch Algorithmen können Ungleichheit und Benachteiligung schaffen. Ist man in der „falschen“ Daten-Kohorte, bekommt man vielleicht keinen Kredit oder wird an einer Universität abgelehnt.
Digitale Innovationen verändern unsere Gesellschaft rasant. Kann man die künftigen technischen Entwicklungen, also die nächsten großen Dinger, überhaupt noch einigermaßen präzise vorhersagen?
Ich habe jahrelang in der Halbleiter-Industrie gearbeitet. Was dort in der Forschung und Entwicklung jetzt angesagt ist, wird frühestens in fünf bis sieben Jahren Teil von Produkten und Dienstleistungen. Vergessen Sie nicht, dass Google eigentlich Mathematik aus den 30er-Jahren ist und Künstliche Intelligenz aus den 50er- und 60er-Jahren. Ein guter Indikator für Trends ist immer das Militär. Die hatten Touchscreens lange vor dem ersten iPhone von Steve Jobs.
Von Robotik und Industrie 4.0 über Künstliche Intelligenz, Chatbots, Internet der Dinge bis Blockchain und Algorithmus- Ökonomie: Welche Treiber haben den größten Einfluss auf unsere Zukunft?
Zuerst sollten wir Äpfel und Birnen trennen. Künstliche Intelligenz wurzelt in zunehmenden Datenmengen, besseren Halbleitern und wachsender Vernetzung zu akzeptablen Preisen. Rechenkapazitäten werden immer billiger und zugänglicher, also entstehen auch mehr Ideen und Produkte. Aber all das ist noch weit entfernt von einer „bewussten“ Künstlichen Intelligenz. Blockchain hat meiner Ansicht nach eine große Zukunft. Deswegen berate und unterstütze ich auch Ocean Protocol, die Schaffung eines dezentralen Systems zum Datenaustausch. Für die kommenden drei Jahre gibt es meiner Ansicht nach vier wichtige Trends. Erstens: der Fortschritt der so genannten Deep-Learning-Software. Zweitens: Das Internet heute erinnert mich an die Jahre 1997/98. Aber seitdem ist viel passiert. Dezentrale Datenmärkte auf Blockchain werden traditionellen Unternehmen die Möglichkeit geben, sich mit KI-Programmierern zu vernetzen, ohne dabei die Kontrolle über ihre Daten zu verlieren. Drittens: In der Hardware geht es u. a. in Richtung neuromorphe Chips und Quanten-Computing. Viertens: Feindselige Attacken, unterstützt durch maschinelles Lernen, werden noch massiver. Manipulierte Fotos, Videos und Stimmen. Manipulierte Sensoren, von denen Energie zur Schaffung von Kryptowährungen abgezapft wird. Selbstfahrende Autos, die durch Eingriffe von außen Steine und Waschbären verwechseln. IT-Sicherheit wird im Internet der Dinge überragende Bedeutung bekommen.
Was ist eigentlich wichtiger: der Breitbandausbau oder neue Technologiekonzepte?
Netze sind das Rükgrat für alles. Ich erwarte von den Betreibern der Telekommunikation keine bahnbrechenden Innovationen. Sie können aber mit Hilfe maschinellen Lernens die Steuerung und Leistung der Netze erhöhen. Mit dummen Netzen kann man nun mal keine Zukunftsstädte bauen.
Der Chef des Bundeskanzleramts in Berlin, Helge Braun, setzt schon auf ein „neues Wirtschaftswunder“ durch Digitalisierung. Ist die Aufholjagd gegen China und die USA noch zu gewinnen?
China investiert bis 2030 insgesamt 150 Milliarden Dollar in Künstliche Intelligenz und lernende Technologien. Deren 2017 vorgelegte Strategie „Next Generation“ ist fast ein Spiegelbild der Strategie, die das Weiße Haus noch unter Barack Obama 2016 entworfen hat. Viele Länder wie Kanada, Neuseeland, Australien, Frankreich haben längst KI-Strategien, die sich auf Beschäftigung, industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Verteidigung fokussieren. Ich selbst berate in der Sache auch die britische Regierung. Wie gerne würde ich auf Ihre Frage mit einem ermutigenden Lächeln antworten, aber leider fehlen noch die Taten und Fakten dafür.
Bayern will dabei Leitregion sein. Mit einem bereits 2017 verabschiedeten 10-Punkte-Masterplan namens „Bayern Digital II“. Von 2018 bis 2022 sollen drei Milliarden Euro investiert und 2.000 neue Stellen geschaffen werden. Dabei geht es vor allem darum, den Mittelstand bei der digitalen Transformation zu unterstützen. Gute Sache, oder?
Das ist großartig, und wir sollten dabei nicht vergessen, dass diese Transformation in den Schulen beginnt. Melinda, die Frau des Microsoft- Gründers Bill Gates, und die Stanford-Professorin und Google-Cloud-Chief-Science-Officer Fei-Fei Li haben gezielt ein Programm namens AI4All, also „Artificial Intelligence for all“, gestartet, damit Mädchen ab der 8. Klasse mit Deep-Learning-Methoden programmieren lernen. Das Programmierwissen wird ihnen überall helfen, egal, ob sie später Medizin, Ozeanografie, Architektur oder Physik studieren.
Wobei die Installation tieflernender Algorithmen natürlich sehr aufwendig ist. Wie soll ein Mittelständler das schaffen?
Bevor es um Algorithmen geht, sollte er begreifen, welche Daten er braucht, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und in welchen Bereichen ihm Echtzeitdaten helfen können. Auch die Architektur der IT ist wichtig. Die wird künftig nicht mehr aus Silos bestehen, sondern viel agiler sein, um lernfähig zu bleiben. Die Zeiten, in denen man zum Controller laufen muss, um die Zahlen zum Produkt oder Markt parat zu haben, sind irgendwann vorbei. Daten werden jedem Mitarbeiter helfen, Entscheidungen selbstständig zu treffen. Das wird Unternehmensorganisationen verändern.
Viele Führungskräfte beklagen in ihrer Belegschaft fehlende digitale Kompetenzen. Wie können sie mit diesen kritischen Lücken richtig umgehen?
Die Führungskräfte sollten selbst Vorbild sein und nicht aufhören, sich weiterzubilden. Egal, ob im Silicon Valley oder auf Online-Plattformen wie Coursera oder Khan Academy. Aber Veränderungen brauchen auch Zeit. Man kann nun mal kein Rachmaninow-Konzert spielen, ohne jeden Tag zu üben. Und Klagen über einen Mangel an Fähigkeiten lösen nicht das Problem des Nachholbedarfs.
Haben Sie das Gefühl, dass wir Menschen – egal, ob älterer Abteilungsleiter oder junger Arbeiter – wirklich Lust auf die digitale Transformation haben?
Viele Menschen mögen Veränderungen nicht. Egal, ob es der Umzug in eine neue Stadt ist oder das Erlernen einer neuen Sprache. Umso dringender brauchen wir Vorbilder mit Wissensdurst und Widerstandskraft. Menschen, die Mut zu Transparenz haben und Mut zum Scheitern. Menschen, die bereit sind, im Ausland und von anderen Kulturen zu lernen. Technologien sind bei all diesen Eigenschaften immer nur sekundär. Sie machen etwas möglich, mehr nicht. Außerdem wollen die meisten Menschen nicht verlieren. Aber ohne Technologiewissen wird jeder verlieren.
Das auch in München ansässige US-Softwareunternehmen Salesforce hat einen Vorstandsposten in diesem Jahr mit einem KI-Computer besetzt ...
Salesforce hat seine großartigen KI-Fähigkeiten schon unter Beweis gestellt. Ich habe darüber auch in meinem 2018 erschienenen Buch „The Artificial Intelligence Imperative. A Practical Roadmap for Business” geschrieben. Die Firma brauchte ein Tool für Echtzeit-Entscheidungen. Gut so.
Was antworten Sie denjenigen, die fragen, warum laut Bundesagentur für Arbeit in absehbarer Zeit durch die Digitalisierung von Produktion und Arbeit allein in Bayern 15,4 Prozent der menschlichen Arbeit ersetzt werden können?
Automatisierung bringt Kostenersparnis, und das hat Auswirkungen auf uns Menschen. Aber es lohnt sich, auf die Arbeit mit smarten Maschinen neugierig zu sein. Der Trainingsmarkt für Künstliche Intelligenz wird ein Riesenmarkt, weil Computer nun mal keine menschlichen Augen, Ohren und Hirne haben, um bestimmte Daten richtig zu interpretieren. Dadurch entstehen neue Branchen und neue Arbeitsplätze.
Auch die Bankenbranche ist mitten im Transformationsprozess. Es geht um Automatisierung, um webbasierte Prozesse und digitale Zusatztools. Worauf sollten die Banken auch in Bezug auf die veränderten Kundenbedürfnisse unbedingt achten?
Dass es darum geht, als Unternehmen dem Kunden treu zu sein, nicht umgekehrt. Daten und Technologien können helfen, den Kunden bestmöglich zu bedienen. Nicht mehr, nicht weniger. Gegebenenfalls eben auch mit Blockchains, Chatbots oder Sensoren, die Gefühle interpretieren.
Bundeskanzlerin Angela Merkel möchte die Digitalisierung bundesweit forcieren. Mit einem Digitalkabinett und einer eigenen Digitalstrategie, einem gemeinsam mit Frankreich betriebenen Zentrum für Künstliche Intelligenz und einem Plan, der drei Punkte umfasst: 1. Fördern und Fordern von wirtschaftlicher Exzellenz, 2. Die Arbeitswelt auf Zukunft ausrichten, 3. Mehr Werte für das Maschinenzeitalter. Was braucht es noch, damit aus einem Plan echte Chancen werden?
Wir brauchen Vorbilder und Technikkompetenz in jeder Geschäftsführung, jedem Rathaus, jeder Schule. Jeder Aufsichtsrat kann eine Bilanz lesen, warum sollte es so schwierig sein, etwas über „Open Source“ oder „Data Lake“ zu lernen?
Mensch und Maschine – was macht Sie optimistisch, dass wir unsere digitale Zukunft menschlich und ethisch gestalten können?
Weil ich hoffe, dass die Kraft der Kommunikation und unsere Neugier stärker sind als alles andere. Und weil Wachstum etwas ganz Natürliches ist, beruflich und als Mensch. Wichtig ist aber eine gesellschaftliche Ordnung für Innovationen. Und daran müssen alle mitarbeiten – von der Politik bis zum Bildungssektor, von traditionellen Konzernen bis zu Start-ups. Und Google muss der traditionellen Wirtschaft die Möglichkeit geben, Teil der ethischen Gremien dort zu werden. Die Politik muss lernen, dass Datensicherheit keine Sache von ein paar Wörtern ist, sondern eine der Programmierung. Und dafür gibt es allemal genügend gute Beispiele.