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Kunstkalender 2024 – Kalenderblatt November

Metadaten

Kategorie
Kunstkalender
Mediatyp
Bilder, Video
Jahr
2024

Leman Sevda Darıcıoğlu

FIRE, EVERYWHERE, 2023
Performance: Kleidungsstücke, Boxhandschuhe sowie weitere Accessoires, Licht, Video, Sound
Dauer: 6 Stunden

Fire, Everywhere

»Meine Praxis ist in der Körperforschung verwurzelt, die die psychischen, emotionalen und mentalen Begrenzungen und Potenziale des Körpers durch lang andauernde Performances erforscht. Ich betrachte den Körper als eine Schnittmenge aus persönlicher und gesellschaftlicher Geschichte, Ängsten, Emotionen, Gefühlen und Traumata, in der die eigenen Grenzen und Potenziale liegen – eine Einheit, die bestimmt ist von Verletzlichkeit, Stärke, Widerstandsfähigkeit und Lebenskraft. Meine Kunst hat immer mit dem Ort zu tun, an dem sich mein Körper befindet, denn seine Bedeutung kann nur durch die Politik des Hier und Jetzt verstanden und interpretiert werden.«
Leman Sevda Darıcıoğlu

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In theatral abgedunkelter, künstlich beleuchteter Umgebung spielt sich über sechs Stunden hinweg eine beeindruckende Performance ab: Eine drahtige, an Armen und Beinen tätowierte Person boxt sich ebenso anmutig wie kraftvoll durch den Raum, mal schneller, mal wie in Zeitlupe verlangsamt. Ihre äußere Erscheinung wirkt fremdartig und vertraut zugleich, erinnert an eine Figur aus einem Fantasy-Film oder einem Videospiel. Bekleidet mit glitzerndem Kopfschmuck, weißer Korsage und weißem Slip, Gelenkschonern und hohen schwarzen Stiefeln, verbindet die Akteurin* visuell Gegensätzliches – z. B. Revue-Glamour der 1920er Jahre, Wrestling-Pomp, die Strenge traditionell-asiatischer Zeremonielle – und lässt dadurch einen genauen kulturellen Zusammenhang (vermutlich bewusst) offen.

Mit präzise choreografierten Bewegungen, die ans Schattenboxen erinnern, kämpft die Figur gegen ein unsichtbares Gegenüber. Gegen wen oder für welches Ziel kämpft diese Figur? Ganz sicher für etwas, wofür es zu kämpfen lohnt – so ausdrucksstark und fesselnd ist die Performance mit dem Titel „Fire, everywhere“. Für die Künstlerin* thematisiert sie die Stigmatisierung und Widerstandsfähigkeit queerer Gemeinschaften. Dabei ist die Aneignung für Leman Sevda Darıcıoglu ein Werkzeug, um Hegemonie und Normensysteme zu unterlaufen, beziehungsweise eine Handlung, die suggeriert, als habe sie* bereits Macht über die Welt und könne Gegenwart und Zukunft bestimmen. Die Performance zieht Linien zwischen Gewalt und Ermächtigung durch die Symbolik des Boxens und Schlagens, versteht die offensive Aktion als eine verkörperte Forschung, um Formen des Widerstands und der Resilienz im Leben queerer Menschen zu zeigen und gleichzeitig die Frage zu stellen, wie man sich in diesem ständigen Kampf um sich selbst und andere kümmern kann.

Leman Sevda Darıcıoglu geht es aber nicht nur um Queerness, sondern um marginalisierte Menschen im Allgemeinen und um Systeme der Ausgrenzung, des Ausschlusses und der Privilegien. Ihre* Auffassung von Queerness ist nicht nur ein Verweis auf LGBTI+-Identitäten, sondern ein Tor zu einer Welt jenseits der Normen.

Wie alle Live-Performances, Videos, Installationen und öffentlichen Interventionen von Leman Sevda Darıcıoglu möchte auch „Fire, everywhere“ Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, das Gefühl geben, dass ihre Geschichten wertvoll sind und nicht im Dunkeln bleiben dürfen. Sie will die Schönheit ihrer Fragilität sichtbar machen und ins Bewusstsein rufen, wie stark wir alle in unserer Verletzlichkeit sind.

Text: Prof. Dr. Bernhart Schwenk

* Als Künstlerin*, die* mit dem binären Geschlechtersystem nicht einverstanden ist, verwendet Leman in Schriften das Pronomen „sie/ihr“ durchgestrichen und mit einem Sternchen.

Die* Kunstschaffende

Leman Sevda Darıcıoğlu
Leman Sevda Darıcıoğlu
2014–2017

Mitglied des Istanbul Queer Art Collective, Auftritte bei internationalen Kunstveranstaltungen in Griechenland, der Schweiz und der Türkei

Studium der Soziologie an der Mimar Sinan Universität der Schönen Künste, Istanbul

2012–2019

Teil des Advisory Teams für eine Reihe queer- theoretischer Schriften („Queer Düş’ün“/„Queer Fantasy/Thought“), Übersetzerin* / Herausgeberin* mehrerer queerer Bücher

Seit 2022

Masterstudium „Living Art Forms“ an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg bei Johannes Paul Raether und Tamara Antonijević

2022

Gastdozentin* an der Universität der Künste Berlin im Masterstudiengang „Art in Context“