Kunstkalender 2021 – Kalenderblatt Juni
Die Geschichte wurde in Sarah Doerfels Familie erzählt und der Kontext - die dörfliche Messfeier, bei der ein Fremder (auch wegen des starken Dialekts) kaum ein Wort verstehen konnte - hat sie veranlasst, die beiden Ohren in einem Rot zu gestalten, wie es in katholischen Kirchen bei Kerzen, Ewigem Licht und liturgischen Stoffen üblich ist. Die Erzählung vom sonderlichen Pfarrer und seiner Gemeinde handelt auf einer höheren Ebene von Kommunikation. Sarah Doerfel setzt sie sinnlich um, indem der Text nicht einfach von einem Profi vorgelesen wird.
Wichtiger Teil der Arbeit ist die Produktion des gesprochenen Textes. Doerfel bat dazu einen Menschen mit stark eingeschränkter Sehfähigkeit um Unterstützung. Er nahm sich den geschriebenen Text vor und begann, ihn sorgsam und konzentriert vorzulesen. Dabei rang er teils mit den Worten und Satzteilen, die für ihn schwer zu entziffern waren und oft aus dem Zusammenhang erkannt wurden. Dadurch wurde die Übermittlung des Inhaltes von der Schrift ins Gesprochene nicht selbstverständlich, sondern zu einer geistigen wie physischen Anstrengung. Die Aufnahme wurde dann so geschnitten, dass dieser Prozess des Nicht-Verstehens, Verwerfens und endlich doch Verstehens zu einer Art Dialog des Sprechers mit sich selbst wird. So kommentiert sich die gleiche Stimme etwa selbst, fällt sich ins Wort oder wiederholt sich.
Wieder wird das Verstehen zu einem aktiven Akt, der diesmal von uns, den Zuhörenden, zu leisten ist. Es entsteht eine Art instabiles Gleichgewicht, wofür die pendelnden Ohren sinnbildlich sind. Senden und empfangen werden zum Wechselspiel: Das künstliche Ohr spricht, das menschliche empfängt, der Empfänger wiederum muss aktiv die Sendung verstehen, die auch der Sprecher zunächst verstehen musste, um sie kommunizieren zu können. Wenn wir schließlich in seinen mit sich ringenden Vortrag eingestiegen sind, mag sich ein Gefühl wie bei einem Chor einstellen, bei dem die singende Person zugleich die Stimmen ihrer Nachbarn hört und sich als Individuum in der Gemeinschaft auflöst. So gibt der Titel »Chor« nicht nur einen Hinweis auf einen wesentlichen Bestandteil der Heiligen Messe, er zielt zugleich auf dieses sinnliche Phänomen ab, wenn aus dem Einzelnen sozusagen ein Chor wird.
Text: Jochen Meister