Kunstkalender 2020 – Kalenderblatt November
In ihrem Animationsfilm kip•pen setzt sich Lilian Robl in einer reduzierten und zugleich zugespitzten Bildsprache mit einem gesellschaftlichen Phänomen auseinander. So stehen sich im Film eine weiße und ein schwarze Fläche gegenüber, die in einer ununterbrochenen Verwandlung zu schattenrissartigen Silhouetten von Körperteilen und Objekten mutieren. Aus einem Fuß entsteht ein Gesicht, aus dem Gesicht ein Kopf, den eine Hand umfasst usw. Gezielt tauchen dabei Symbole wie ein doppelköpfiger Adler, ein Herz oder die Kartenfarbe Pik auf, alles grafisch präzise in schwarz oder weiß gestaltet. Unterlegt werden die Bilder durch einen atmosphärischen Klang, der zudem mit Geräuschen, wie beispielsweise dumpfen Schritten, die Szenen unterstützt. Diese erzählen nun keine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende und einer speziellen Handlung, sondern gestalten eine assoziative Folge von stetiger Veränderungen unter ein und demselben Vorzeichen. Ein stapfendes Paar Füße, einer davon mit einem anscheinend eintätowierten Adler am Fußgelenk, marschieren parallel durch das Bild, bis einer stillsteht. Während aus der Sohle ein Gesicht wächst, schwebt der Fuß nach oben und macht Platz für einen Kopf. In dieser Art kommen und gehen neue Bilder, erscheint ein Schwimmer, ein Ertrinkender, tauchen Münzen auf und drehen sich. Am Ende rotieren dreidimensionale Objekte, an deren Seiten sich wieder die Embleme Adler und Pik befinden. Lilian Robl hat diese Zeichen ausgewählt, da sie sich kulturhistorisch mit dem Anspruch dominierender Macht verbinden lassen. Seit der Antike steht der Adler für das Imperium, den Kaiser. Dagegen gilt das Pik-Ass als „Todeskarte“ und wurde als Emblem beispielsweise von Jagdfliegern im Zweiten Weltkrieg ebenso verwendet wie von GIs in Vietnam. Auf der Jahresausstellung war der Film Teil einer Rauminstallation. Die beiden kastenförmigen Objekte, die am Schluss auftauchen, waren als Bänke vor der Leinwand aufgestellt und als Wippen konstruiert. Wer Platz nahm, konnte den Kippeffekt am eigenen Leib erfahren, wenn er sich auf der erhöhten Seite niederließ. Mit lautem Knall schlug die Wippe auf den Boden. Und selbst in der Typografie des Titels hat Lilian Robl den Effekt visualisiert, indem sie die beiden Silben durch einen Punkt trennte, der das Wort grafisch zur Wippe formatiert. Doch bei aller gestalterischen Aufmerksamkeit darf der gesellschaftliche Ausgangspunkt nicht vergessen werden, denn das Kippen ist in diesem Sinne kein Kinderspiel, sondern bitterernst.
Text: Jochen Meister